Als Dan Kohn am 11 August 1994 ein Sting-Album über den Online-Marktplatz NetMarket an seinen Freund Phil Brandenberger verkaufte, ahnte er wohl nicht, was er damit in Gang setzen würde. E-Commerce, dessen Umsatz an diesem Datum exakt 12,48 USD betrug, ist heute eine 4,9 Billionen-Dollar-Branche, die etwa 19 % des weltweiten Einzelhandelsumsatzes ausmacht. Im vergangenen Jahr beschleunigte die COVID-Krise die Verlagerung vom stationären Einzelhandel zum Online-Shopping. Bemerkenswert dabei ist, dass laut einer Adesso-Studie nur 41 % der Befragten angaben, dass sie ihr Kaufverhalten wieder auf das vor der Pandemie ändern werden. Das bedeutet, dass es nun dauerhaft deutlich mehr Online-Shopper geben wird.
Amazon kämpft um das Vertrauen seiner Kunden
Der Hauptgrund, warum diese 41 % zu alter Gewohnheit zurückkehren dürfte an einer mangelnden Vertrauensbasis liegen. Woher weiß der Kunde, dass ein Produkt macht, was das Unternehmen behauptet? In dem Versuch, das Vertrauensproblem zu lösen, haben Plattformen Lösungen entwickelt, die von nutzergenerierten Bewertungen bis hin zu plattformgesponserten Produkten reichen. Wenn Amazon (WKN: 906866 / ISIN: US0231351067) beispielsweise behauptet, dass ein gutes Produkt gut ist, muss es auch gut sein. Bewertungen und Rezensionen haben laut einer Ark-Invest-Studie zwar den größten Einfluss auf das Kaufverhalten der US-Verbraucher, allerdings hat das Vertrauen in Online-Bewertungen und -Rezensionen in den letzten fünf Jahren abgenommen und die Angst vor Fake-Bewertungen geht um. In der Konsequenz orientieren sich die Käufer wieder vermehrt an Marken oder Personen, denen sie vertrauen. Und genau hier schlummert das Potenzial von Social Commerce.
Richtig umgesetzt, kombiniert Social Commerce die Bequemlichkeit des Online-Shoppings mit den Netzwerkeffekten und dem persönlichen, vertrauensstiftenden Zugang in den sozialen Medien. Um das Potenzial zu heben, beginnen viele Social-Media-Plattformen E-Commerce-Lösungen einführen, während zur gleichen Zeit traditionelle E-Commerce-Anbieter soziale Funktionen integrieren. Laut einer ARK-Studie dürfte der weltweite E-Commerce Markt bis 2025 17 Billionen Dollar wert sein, wobei Social Commerce in dieser Zeit seinen Anteil von derzeit 7 % auf 17 % mehr als verdoppeln könnte.
Im Fahrwasser von JD.com und Tencent
Vorreiter und maßgeblich für den bereits existierenden Social-Commerce-Erfolg verantwortlich ist China. Im größten E-Commerce-Markt der Welt wurden im vergangenen Jahr 1,5 Billionen Dollar mit Online-Einkäufen umgesetzt, was 25 % des gesamten Einzelhandelsumsatzes in diesem Land entspricht. 2014 schloss sich JD.com (WKN: A112ST ISIN: US47215P1066) mit Tencent (WKN: A1138D ISIN: KYG875721634) zusammen, um WeChat-Nutzern erstmalig einen direkten Kauf innerhalb der App zu ermöglichen. Pinduondo (WKN: A2JRK6 ISIN: US7223041028), das heute zweitgrößte E-Commerce Unternehmen Chinas wurde erst 2015 gegründet und setzt ausschließlich auf Social Commerce. Der Clou: In chinesischen sozialen Netzwerken wie WeChat oder Tencent QQ können sich Nutzer zu Sammelbestellern zusammenschließen, um auf diese Weise niedrigere Endpreise zu erzielen. Angesichts des Erfolgs von Pinduoduo folgte auch Alibaba (WKN: A2PVFU ISIN: KYG017191142) dem Social-Commerce-Trend und fügte seinen Plattformen soziale Funktionen hinzu.
Alibaba und Co. entdecken das Livestreaming
2016 begannen die chinesischen E-Commerce-Plattformen dann mit Livestreaming-Angeboten zu experimentieren. Alibabas Taobao, Mogujie (WKN: A2PAYM ISIN: US6080121006) und JD.com starteten Echtzeit-Videofunktionen, um das Engagement auf ihren Plattformen zu erhöhen. Zwischen 2017 und 2018 schlossen sich Videostreaming-Plattformen wie Douyin (WKN:A2PJ6X ISIN: US25985W1053), Kuaishou (WKN: A2QNAP ISIN: KYG532631028), Xigua Video und Meipai dieser Bewegung an und erweiterten ihre sozialen Plattformen um E-Commerce-Angebote. Im Jahr 2019 war Livestreaming-E-Commerce bereits so wettbewerbsfähig geworden, dass Influencer wie Viya und Jiaqi Li über diese Kanäle in kurzer Zeit reich und berühmt wurden. In den drei Monaten von Juli bis September 2020 verkaufte Huang Wei alias Viya Produkte im Wert von rund 890 Millionen Dollar. Jiaqi Li – in China besser bekannt als „Lipstick King“, weil er 15.000 Lippenstifte in weniger als fünf Minuten verkaufte – erzielte am Single’s Day 2020, dem chinesischen Black-Friday-Pendant, auf Taobao einen Umsatz von mehr als 145 Millionen Dollar. Schätzungen zufolge betrug bereits im Jahr 2020 der Anteil von Social Commerce an den Online-Verkäufen in China 22%.
Amazon und Shopify reiten auf der Welle mit
Auch außerhalb Chinas beginnt Livestreaming-E-Commerce eine immer wichtigere Rolle zu übernehmen. Kein Wunder, schließlich werden diese Kanäle von Experten, Influencern und anderen vertrauenswürdigen Personen moderiert, wodurch die so wichtige oben angesprochene Vertrauensbasis bereits existiert.
2016 wurde das Unternehmen Popshop Live gegründet, welches ausschließlich auf dieses Format setz und für eine einfache Abwicklung mit Shopify (WKN: A14TJP ISIN: CA82509L1076) zusammenarbeitet. In einer Serie-A-Finanzierungsrunde konnte Popshop Live dieses Jahr 20 Millionen USD an Investorengeldern einsammeln. Ebenfalls in Kooperation mit Shopify bietet auch TikTok eine eigene Lösung an, um innerhalb der App direkt Waren verkaufen zu können. Amazon schuf 2019 mit Amazon Live ein eigenes Streamingangebot für Händler, um sich gegen die immer größer werdende Konkurrenz aus den sozialen Medien zu wappnen. Der wichtigsten Player außerhalb Chinas könnte dabei in Zukunft Youtube werden. „Wir wollen Amazon das Leben schwer machen“, zitiert Bloomberg den Youtube-Manager David Katz. Unboxing-, Tutorial und „Shop with me“-Videos, stehen bereits jetzt häufig am Anfang von Kaufentscheidungen, doch gekauft werden die Produkte dann auf anderen Plattformen. Damit sich das in Zukunft ändert, wurden bereits erste Tests mit den Handelsketten Walmart, Target und Sephora durchgeführt. Das zum Alphabet-Imperium (WKN: A14Y6F ISIN: US02079K3059) gehörende Unternehmen könnte so zusätzliche Einnahmen generieren.
Sollte die Akzeptanz ähnlich hoch sein wie in China, könnte der weltweite Livestreaming-E-Commerce-Umsatz von 100 Mrd. USD im Jahr 2020 auf 890 Mrd. USD bis 2025 um 54 % steigen.
Chancen auch für Facebook, Instagram und Twitter
Die massenhafte Verbreitung des Internets und mobiler Geräte hat sowohl den Online-Handel als auch die sozialen Medien vorangetrieben. Social Commerce könnte jetzt beiden Systemen einen zusätzlichen Schub verleihen, zumal die Einführung von Social-Comerce durch drei entscheidende Rahmenbedingungen in den letzten Jahren immer einfacher geworden ist:
1.) Einfachere Zahlungsabwicklung durch FinTech-Lösungen
Zahlungslösungen wie die von PayPal (WKN: A14R7U ISIN: US70450Y1038), Square (WKN: A143D6 ISIN: US8522341036) und Stripe (WKN: ASTR77 ISIN: NET0000STR77) demokratisieren das Finanzwesen und senken nicht nur die Kosten für die Abwicklung von Online-Zahlungen, sondern auch die Eintrittsbarrieren. Jede soziale Plattform und jedes Unternehmen kann diese Lösungen einfach in die eigene Website integrieren
2.) E-Commerce-Lösungen von der Stange
Backend-Services verbinden Bestandsmanagement, Logistik, Frontend-Benutzerschnittstellen und die Integration von Drittanbietern und reduzieren so das notwendige Kapital und den notwendigen Aufwand für die Einrichtung von E-Commerce-Aktivitäten. Fulfilment-as-a-Service-Lösungen wie von Amazon und Shopify senken die Einstiegskosten und vereinfachen Ihren Kunden den Aufbau und die Skalierung von Online-Geschäften so weit, dass manche Verkäufer die von ihnen verkauften Produkte nie zu Gesicht bekommen.
3.) Beschleunigte Übernahme durch traditionelle Social-Media-Plattformen
Die Einführung von Social Commerce beschleunigt sich zunehmend, da auch die traditionellen sozialen Plattformen – Facebook und Instagram bzw. jetzt Meta Platforms (WKN: A1JWVX ISIN: US30303M1027), Twitter (WKN: A1W6XZ ISIN: US90184L1026), Snapchat (WKN: A2DLMS ISIN: US83304A1060) und Pinterest (WKN: A2PGMG ISIN: US72352L1061) – ebenfalls Handelsfunktionen integrieren: Facebook bietet Händlern Live-Shopping-Funktionen an und Instagram lockt die Nutzer mit umfangreichen E-Commerce-Möglichkeiten. Im Juli 2021 startete Twitter ein Pilotprogramm zur Präsentation von Produkten auf Unternehmensprofilen. Mit Investitionen in Mini-Apps und Augmented-Reality-Shopping will Snapchat das WeChat der westlichen Welt werden und in den nächsten Monaten In-App-Shopping und Anprobierfunktionen einführen. In der Zwischenzeit lockt Pinterest weiterhin Kreative und Influencer mit Monetarisierungs-Tools wie Idea Pins.
Statt wie bisher lediglich als Lead-Generatoren zu fungieren, dürften Social-Media-Plattformen in Zukunft eigene Handelslösungen etablieren und so dem Social Commerce einen starken Wachstumsschub verleihen.